Arbeitszeitverkürzung in Frankreich – Mehr Jobs für Geringqualifizierte
Das Beispiel Frankreich, wo die 35-Stunden-Woche landesweit ab 2000 eingeführt wurde, habe etwas anderes gezeigt, sagt hingegen der Arbeitszeitforscher Steffen Lehndorff: „Gerade bei den gering qualifizierten Arbeitern in der Industrie gab es die größten Beschäftigungszuwächse.“ Der Grund: Wird die individuelle Arbeitszeit am Band und im Schichtsystem gekürzt, ist offensichtlich, dass Arbeitskraft fehlt und es neue Beschäftigte braucht. „Je höher das Qualifikationsniveau, desto voraussetzungsvoller wird hingegen das Ganze“, so Lehndorff.
Der Effekt: In Frankreich reduzierten viele Hochqualifizierten ihre Arbeitszeit faktisch nicht. Zumal es dazu grundsätzlich möglich sein muss, Arbeit zu teilen. Ein Abbau der Arbeitslosigkeit funktioniere aber nur, wenn auch tatsächlich Arbeitszeit verkürzt werde. Doch trotz der teilweise ausgebliebenen Verkürzung seien in Frankreich insgesamt zwischen 300.000 und 400.000 neue Jobs entstanden, so Lehndorff.
Er weist auf eine weitere Erfahrung hin. Zwar hätte zur Einführung der 35-Stunden-Woche der Lohnausgleich funktioniert. „Aber die nächsten zwei bis drei Jahre blieben die Löhne in Frankreich praktisch eingefroren. Nur so konnten die Arbeitskosten stabil gehalten werden.“ Sein Fazit: „Arbeitszeitverkürzung ist möglich und sinnvoll. Aber es braucht dafür einen langwierigen, sozialen Umbauprozess der ganzen Gesellschaft.“
Quelle:
taz Siehe dazu die
Studie „Arbeitszeitentwicklung in Europa“ [PDF - 5.5 MB]
Hg. Thomas Händel/ Axel Troost“
von Steffen Lehndorff, Alexandar Wagner, Christine Franz
… Besondere Beachtung verdienen die Arbeitszeitschwankungen in Frankreich. Unter Berücksichtigung der Veränderungen in der Erhebungsmethode lässt sich sagen, dass im Zeitraum von 1998 bis 2002, also im Zuge der zunächst freiwilligen Vereinbarung und dann gesetzlichen Etablierung der 35-Stundenwoche, die gewöhnlichen Wochenarbeitszeiten um zwei Wochenstunden zurückgingen. Nach dem Regierungswechsel im Jahre 2002 verlängerten sich die Arbeitszeiten bis 2008 dann wieder um 0,5 Wochenstunden. Diese U-förmige Bewegung reflektiert die Änderungen in der gesetzlichen Arbeitszeitregulierung nach 1998 und dann in die entgegengesetzte Richtung seit dem Jahresbeginn 2003. Der „Netto-Effekt“ der Absenkung der gesetzlichen Arbeitszeit von 39 auf 35 Wochenstunden in Frankreich dürfte deshalb ungefähr im Bereich von 1,5 Wochenstunden liegen…
Insbesondere in Frankreich hat diese Ausdifferenzierung wesentlich zu der Verlängerung der durchschnittlichen Arbeitszeiten seit 2002 beigetragen. Bei Beschäftigten mit geringer und mittlerer Qualifikation hatte die Einführung der gesetzlichen 35-Stundenwoche trotz ihrer anschließenden Verwässerung seit 2003 immer noch einen Netto-Verkürzungseffekt (bei Berücksichtigung der Änderungen in der Erhebungsmethode) von einer Wochenstunde und mehr. Bei Hochqualifizierten dagegen hat das Hin und Zurück in der Arbeitszeitregulierung sogar einen minimalen Arbeitszeitverlängerungs-Nettoeffekt hinterlassen …
… Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass Arbeitszeitpolitik nicht allein Politik im Interesse von Vollzeitbeschäftigten sein darf. Am Beispiel Deutschlands springt die politische Brisanz dieser Überlegung ins Auge. Dort beträgt die durchschnittliche Arbeitszeit aller abhängig Beschäftigten heute bereits weniger als 35 Wochenstunden, was rechnerisch dem Ziel zahlreicher gewerkschaftlicher Forderungen zur Arbeitszeitverkürzung entspricht.
Dieser Durchschnitt drückt jedoch nicht einen Erfolg gewerkschaftlicher Arbeitszeitpolitik aus, sondern primär das erreichte Ausmaß der Ungleichverteilung von Arbeitszeiten und eine dahinter stehende Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt, die in erster Linie eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern ist. Arbeitsumverteilung sollte daher nicht mehr ausschließlich als Umverteilung innerhalb der Gruppe der Vollzeitbeschäftigten gesehen werden, sondern immer auch als Umverteilung zwischen den Geschlechtern.
Siehe auch noch:
Steffen Lehndorff: Chancen der Arbeitszeitverkürzung
… Bis zur Krise war der Gedanke, dass radikale Arbeitszeitverkürzungen helfen können, Arbeitsplätze zu sichern oder gar zu schaffen, politisch ein toter Hund. Die positiven Erfahrungen bei Volkswagen in den 1990er Jahren und vor allem in Frankreich zwischen 1998 und 2002 hatten daran nichts ändern können. 2009 wurde dieses Tabu gebrochen. Dass es die betrieblichen Arbeitszeitverkürzungen waren, die wesentlich zum Abwenden der unmittelbar drohenden Katastrophe auf dem deutschen Arbeitsmarkt beigetragen haben, wird heute von niemandem ernsthaft bestritten. Selbstverständlich ist die Erfahrung von 2009 nicht bruchlos in eine neue Initiative für kürzere Arbeitszeiten zu übersetzen. Dagegen spricht zunächst, und ganz offensichtlich, das Interesse der Arbeitgeber, die Maßnahmen wie Kurzarbeit stets für außergewöhnliche Notsituationen reservieren werden wollen. Dagegen spricht ebenfalls, dass die Kurzarbeit mit erheblichen Einkommenseinbußen verbunden war, die für viele – wenn auch nicht alle! – Beschäftigte als Dauerlösung inakzeptabel wären. Zumal die öffentliche Förderung dieses Modells auf akute Notsituationen beschränkt ist …
Der breite Konsens zur positiven Wirkung der Arbeitszeitverkürzung in der Krise ist also auch aus gewerkschaftlicher Sicht betrachtet nicht unkompliziert. Wenn ich dies hervorhebe, geht es mir nicht darum, politische Chancen klein zu reden oder politischen Fatalismus schein-objektiv zu legitimieren. Die Krisen-Erfahrung kann und sollte unbedingt genutzt werden, um insbesondere die beschäftigungspolitische Bedeutung der Arbeitszeitverkürzungen zu enttabuisieren. Aber am Anfang einer neuen arbeitszeitpolitischen Initiative der Gewerkschaften muss eine nüchterne Bestandsaufnahme stehen. Eine Bestandsaufnahme, die Ausgangspunkte und Chancen für gewerkschaftliche Politik in den Blick nimmt.
Quelle:
Gegenblende