Marianne Mustermann Musterdorf, 18.01.2019
Musterstraße 11
11111 Musterdorf
JobCenter Musterdorf
z.Hd. Herrn Musterbach
Musterhafte Str. 17
12345 Musterberg
- Vorab per Fax -
Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) – Kdnr. ABC12345678
Anhörung zum Meldeversäumnis von Tag des Meldeversäumnisses
Sehr geehrter Herr Musterbach,
in der vorbezeichneten Angelegenheit nehme ich Bezug auf Ihr Schreiben vom Tag, hier eingegangen am Tag.
[Hier stand eine Beschwerde über den Postdienstleister, der für die nachfolgende Situation irrelevant ist]
Zu Ihrem Schreiben nehme ich wie folgt Stellung:
Eine gesonderte Wege-/Reiseunfähigkeits- oder Bettlägerigkeitsbescheinigung, wie von Ihnen mit der Einladung zu o.g. Termin gefordert, existiert nicht. Weder das SGB II noch das SGB V kennen eine solche ärztliche Bescheinigung. Darüber hinaus ist die Pflicht, im Krankheitsfall grundsätzlich immer eine Wege-/Reiseunfähigkeitsbescheinigung vorlegen zu müssen, gesetzlich nicht verpflichtend verankert. Zudem ist die Notwendigkeit der Vorlage eines Attests dieser Art weder angezeigt noch rechtmäßig. Eine krankheitsbedingte Verhinderung kann sogar ohne Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung, etwa durch Zeugenbeweis oder eine eidesstaatliche Versicherung, nachgewiesen werden (Berlit in LPK-SGB II, 4. Aufl. 2011, § 32 Rn. 13; Sonnhoff in JurisPK-SGB II, 2. Aufl., Stand 24.08.2010, § 32 Rn. 191).
Besteht der Grundsicherungsträger auf die Vorlage einer Arbeits- bzw. Reiseunfähigkeitsbescheinigung und lehnt er pauschal die Prüfung anderer angebotener Beweismittel ab (etwa Zeugenbeweis, eidesstattliche Versicherung), verstößt er gegen seine Amtsermittlungspflichten aus § 20 SGB X. Meines Erachtens folgt aus der Reglung in § 309 Abs. 3 Satz 3 SGB III die gesetzgeberische Wertung, dass derjenige, der arbeitsunfähig ist (also eine gültige AU-Bescheinigung vorlegen kann), auch keinen Meldetermin wahrnehmen muss (a. A. BSG a.a.O. Rn. 31). Andernfalls würde die Ermächtigung des Grundsicherungsträgers zum Erlass einer Meldeaufforderung zur persönlichen Vorsprache am „ersten Tag der Arbeitsfähigkeit“ (§ 309 Abs. 3 Satz 2 SGB III) keinen Sinn machen. Als Subtext schwingt hier mit: Wer arbeitsunfähig ist, ist auch meldeunfähig.
Eines Attestes über die krankheitsbedingte Unfähigkeit, zu einem Meldetermin erscheinen zu können (Wegeunfähigkeitsbescheinigung), bedarf es regelmäßig nicht, wenn sich aus dem Krankheitsbild bereits die Unfähigkeit zur bzw. Unzumutbarkeit der Terminwahrnehmung ergibt. Ich habe Ihnen eine für den [Termin] geltende Bescheinigung über den Fortbestand meiner Arbeitsunfähigkeit vorgelegt. Zudem wurden Sie von mir über den Grund für die Nichtwahrnehmung des Meldetermins nachweislich informiert. Darüber hinaus kann ich Ihnen Zeugen benennen, die bestätigen, dass ich am genannten Tag nicht in der Lage war, den betreffenden Gesprächstermin wahrzunehmen.
In der Sache ist zu konstatieren, dass Sie mit der pauschalen Forderung nach Vorlage einer Wege- bzw. Reiseunfähigkeitsbescheinigung gegen Ihre Amtsermittlungspflichten aus § 20 SGB X verstoßen.
Gemäß § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II und § 32 S. 2 SGB II bestehen entsprechende Pflicht- und Meldeversäumnisse nicht, wenn Betroffene wichtige Gründe für ihr Verhalten darlegen. Die Vorlage einer für den 03.01.2019 geltenden Bescheinigung über den Eintritt einer Arbeitsunfähigkeit ist auch grundsätzlich ausreichend zum Nachweis eines wichtigen Grundes im Sinne des § 32 Abs. 1 S. 2 SGB II, da als Nachweis für die Unfähigkeit, aus gesundheitlichen Gründen beim Leistungsträger zu erscheinen, regelmäßig die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung in Betracht kommt. Arbeitsunfähigkeit ist dabei zwar nicht in jedem Einzelfall gleichbedeutend mit einer krankheitsbedingten Unfähigkeit, zu einem Meldetermin zu erscheinen (BSG, Urteil vom 09.11.2010, B 4 AS 27/10 R; Sonnhoff, in: JurisPK-SGB II, 2. Aufl., Stand 24.8.2010, § 31, Rn. 193; Loose in: GK SGB II, § 31, Rn. 78, Stand Mai 2008; Düe, in: Brand/Niesel, SGB III, 5. Aufl. 2010, § 309, Rn. 21; a.A. Winkler, in: Gagel, SGB II/SGB III, § 309, Rn. 21a, Stand Juni 2006). Mit einer Arbeitsunfähigkeit ist aber regelmäßig die Vermutung verbunden, dass ein Meldetermin aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrgenommen werden kann. Diese Vermutung ist dabei im Streitfall von den Sozialgerichten zu überprüfen (BSG, a.a.O.).
In begründeten Ausnahmefällen kann jedoch von dem Leistungsberechtigten zusätzlich die Vorlage einer gesonderten Bescheinigung verlangt werden. Dies kann etwa der Fall sein, wenn der Leistungsberechtigte über einen längeren Zeitraum mehrere Termine unter Vorlage von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen versäumt hat und insoweit Zweifel an einer tatsächlichen Reiseunfähigkeit bestehen.
Aus den vorgenannten Ausführungen folgt, dass Jobcenter gegenüber erwerbsfähigen Leistungsberechtigten nicht in jedem Leistungsfall verfügen können, dass nur nach Vorlage einer „Reiseunfähigkeitsbescheinigung“ das Vorliegen eines wichtigen Grundes im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 2 SGB II für ein begangenes Meldeversäumnis entsprechend § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II zu bejahen ist.
Nach § 56 SGB II i. V. m. § 275 Absatz 1a SGB V sind Zweifel insbesondere anzunehmen, wenn erwerbsfähige Leistungsberechtigte z. B. auffällig häufig oder auffällig häufig nur für kurze Dauer arbeitsunfähig sind oder der Beginn der Arbeitsunfähigkeit häufig auf einen Arbeitstag am Beginn oder am Ende einer Woche fällt. Dabei handelt es sich nicht um eine abschließende gesetzliche Aufzählung. In den Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit werden weitere Fälle beschrieben, in denen von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit ausgegangen werden kann, wie z. B. bei wiederholter Krankschreibung, wenn Einladungen zum Jobcenter oder das Angebot einer Eingliederungsmaßnahme vorliegen.
Von ausschlaggebender Bedeutung sind hier also stets die Anforderungen des jeweiligen Einzelfalls, damit das amtlicherseits geäußerte Verlangen nach der Beibringung eines besonderen Attests als sachlich gerechtfertigt aufgefasst werden kann. Hier obliegt Ihnen eine besondere Darlegungspflicht, damit das Erfordernis zur Abgabe detaillierter medizinischer Angaben über die Auswirkungen einer Erkrankung, durch die die Wahrung eines Termins im Sinne des § 32 Abs. 1 Satz 1 SGB II unmöglich gemacht werden, besteht.
Es mag durchaus Gerichte geben, die hierzu bereits entschieden haben, dass der Hinweis zur Vorlage einer gesonderten ärztlichen Bescheinigung in Fällen mit einschlägiger Vorgeschichte nicht rechtswidrig ist.
Sofern Sie sich auf das Urteil des Bundessozialgerichts vom 09.11.2010 – Az.: B 4 AS 27/10 R – berufen, teile ich weiterführend mit, dass es dort im Tenor um eine wiederholte Nichtwahrnahme zu einem ärztlichen Untersuchungstermin ging und nicht etwa wie vorliegend, um einen Meldetermin in einem Jobcenter. Deshalb ist die BSG-Rechtsprechung zur Vorlage einer gesonderten ärztlichen Bescheinigung neben der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dann gerechtfertigt, wenn sich der erwerbslose Leistungsberechtigte augenscheinlich mutwillig stets den ärztlichen Meldeterminen entzieht. Dies ist jedoch vorliegend nicht der Fall.
Sollten Sie sich versehentlich auf das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 23.07.2009 – Az.: L 5 AS 131/08 – berufen, so ist diese Einzelfallentscheidung jedoch weder allgemein verbindlich für alle erkrankten Betroffenen, noch ersetzt sie geltendes Recht, noch befähigt sie das Jobcenter, von mir solche pauschalen Bescheinigungen zu verlangen.
Die bisher in derlei Sachen ergangenen Urteile betreffen allesamt spezielle (Einzel-) Fälle, in denen die Nutzung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung missbraucht wurde bzw. der Missbrauchsverdacht nahe lag, um nicht zum Termin gehen zu müssen. Es bestand also ein (konkreter) Verdacht. Deshalb haben die Richter dann im jeweiligen Einzelfall die Vorlage einer gesonderten ärztlichen Bescheinigung teilweise als berechtigt zugestanden.
Die Vorlage einer Wege-/Reiseunfähigkeitsbescheinigung kann nur bei begründetem Verdacht und auch nur im Wiederholungsfall mit begründetem Verdacht verlangt werden. Grundsätzlich ist der Leistungsempfänger verpflichtet, dem Leistungsträger eine eingetretene Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich anzuzeigen und spätestens vor Ablauf des dritten Kalendertages nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer vorzulegen (§ 56 Abs. 1 S. 1 SGB II). In dem betreffenden Paragraphen steht aber nichts von einer zusätzlichen ärztlichen Bescheinigung.
In der Vergangenheit, insbesondere in früherem Leistungsbezug, habe ich Ihren Meldeaufforderungen immer Folge geleistet, ohne AU als wichtigen Grund anzugeben, den Meldeaufforderungen nicht nachzukommen und ohne Ihnen Grund zu Zweifeln an AU gegeben zu haben. Ich nahm trotz bestehender AU Ihre Meldetermine wahr. Insofern habe ich in meinem Fall berechtigte Zweifel, dass hier eine entsprechende Vorgeschichte vorliegt, die das Verlangen eines besonderen Attests im Voraus rechtfertigt. Konkrete Aussagen dazu haben Sie bislang jedenfalls nicht gemacht, ebenso wenig wie Gründe für das Abverlangen einer zusätzlichen ärztlichen Bescheinigung über Wegeunfähigkeit genannt, warum Sie im vorliegenden Einzelfall Grund zu Zweifeln an meiner AU haben.
Zudem unterstellen Sie mir mit Ihrer pauschalen und anlasslosen Forderung vorauseilend, meine Erkrankung als Vorwand zu nehmen, bei Ihnen nicht zu erscheinen.
Bereits in unserem letzten Gespräch teilte ich Ihnen jedoch mit, dass ich einer schweren Operation unterziehen musste und seither unter entsprechenden Folgen leide. Die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, welche zu diesem Zeitpunkt noch Bestand hatte, haben Sie unter Zeugen nicht entgegen genommen und sich dahin gehend geäußert, dass Sie diese „gar nicht haben wollen“.
Mit der Absage des doppelten Meldetermins [Termin 1/2] wies ich Sie zudem darauf hin, dass eine weitere Erkrankung hinzugekommen ist. In Folge dessen und der Einnahme von starken Medikamenten ist es mir unmöglich[oder andere Begründung], Termine in Ihrer Behörde wahrzunehmen. Durch diesen Umstand bin ich auch seither Arbeitsunfähig erkrankt. Die entsprechenden AU liegen Ihnen durchgängig seit dem [Beginn der AU-Zeit] vor. Den Meldetermin am [Termin] beabsichtigte ich wahrzunehmen, dies war jedoch durch meinen Zustand am gleichen Tag nicht möglich, so dass ich kurzfristig per Fax absagte.
Aufgrund dem Zusammenhang dieser Umstände bin ich auch weiterhin nicht in der Lage, der Aufforderung zur persönlichen Meldung nachzukommen. Eine entsprechende Bestätigung meines behandelnden Arztes habe ich diesem Schreiben beigefügt. [Wenn vorhanden]
Schlussendlich ist darauf hinzuweisen, dass eine gesonderte ärztliche Bescheinigung nur dann beschaffbar ist, wenn der die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellende Arzt eine solche auch ausstellt. Für einen Arzt gibt es keine Verpflichtung, eine sog. Wege- oder Reiseunfähigkeitsbescheinigung auszustellen, da eine solche Bescheinigung trotz BSG-Urteil eine Phantasiebescheinigung ist, die in keinem Leistungsverzeichnis der Krankenkassen verzeichnet ist. Insofern scheidet eine Sanktionierung aufgrund der Nichtbeibringung der geforderten Wege-/Reiseunfähigkeitsbescheinigung aus, da das Beibringen von der Leistung eines unbeteiligten abhängt.
Sollten Sie trotz meiner vorgenannten Ausführungen eine Sanktion erlassen, werde ich mich umgehend an das hiesige Sozialgericht wenden.
Mit freundlichen Grüßen,
Marianne Mustermann