BAG-Urteil vom 17.01.1995 (3 AZR 399/94)
Leitsätze:
1. § 3 Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 des Manteltarifvertrages für das Maschinenbauer-, Schlosser-, Schmiede-, Werkzeugmacher-, Dreher-, Metallformer- und Metallgießerhandwerk im Lande Nordrhein-Westfalen vom 29. März 1989 (MTV) räumt beiden Arbeitsvertragsparteien eine Ersetzungsbefugnis ein. Nach dieser Vorschrift kann der Arbeitnehmer anstelle der an sich geschuldeten Mehrarbeitsvergütung Freizeitausgleich verlangen und der Arbeitgeber an Erfüllung Statt Freizeitausgleich gewähren.
2. Die Ersetzungsbefugnis nach § 3 Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 MTV umfaßt nicht die ersten 16 Mehrarbeitsstunden. Insoweit bedarf es auch dann einer Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn innerhalb von 30 Kalendertagen mehr als 16 Mehrarbeitsstunden angefallen sind.
3.
Der Vertragspartner, der von seiner Ersetzungsbefugnis Gebrauch macht, muß dies unmißverständlich erklären. Die Erklärung muß zwar nicht ausdrücklich abgegeben werden, sich aber aus den für den Erklärungsempfänger erkennbaren Umständen zweifelsfrei ergeben. Allein die Mitteilung des Arbeitgebers, keine Einsatzmöglichkeiten für den Arbeitnehmer zu haben, genügt nicht.
4. Der Arbeitgeber legt den Zeitpunkt des Freizeitausgleichs fest.
Diese einseitige Leistungsbestimmung hat nach billigem Ermessen zu erfolgen (§ 315 BGB). Daraus ergibt sich u.a., daß der Arbeitgeber eine angemessene Ankündigungsfrist wahren muß. Die Arbeitsfreistellung muß dem Arbeitnehmer so rechtzeitig mitgeteilt werden, daß er sich noch ausreichend auf die zusätzliche Freizeit einstellen kann. Dieses Erfordernis ist nicht erfüllt, wenn der Arbeitnehmer erst zwischen 15.00 und 17.00 Uhr davon in Kenntnis gesetzt wird, ob er am folgenden Tag zur Arbeitsleistung verpflichtet ist oder Freizeitausgleich erhält.
[...]
Entscheidungsgründe:
[...]
Nach billigem Ermessen ist die Leistungsbestimmung nur dann erfolgt, wenn die Interessen beider Parteien ausreichend berücksichtigt worden sind.
Der zur Leistungsbestimmung Berechtigte darf nicht einseitig auf seine Bedürfnisse abstellen; er darf die Belange seines Vertragspartners nicht außer acht lassen. Vor allem sind der Zweck der zu gewährenden Leistung und die Folgen, die für die Vertragsparteien durch die in Betracht kommenden Leistungsbestimmungen voraussichtlich eintreten, angemessen zu berücksichtigen.
[...]
Entgegen der Ansicht des Klägers begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, wenn der Arbeitgeber den Freizeitausgleich für Zeiten gewährt, in denen er die Arbeitnehmer ohnehin nicht hätte beschäftigen können. (Anmerkung von dagobert1: Nicht missverstehen, dieser Passus bezieht sich nicht auf das AÜG und logischerweise auch nicht auf die aktuellen Leiharbeitstarife.) Dies widerspricht nicht dem Sinn und Zweck des § 3 Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 MTV. Dadurch, daß § 3 Nr. 2 Abs. 2 Satz 2 MTV auch dem Arbeitgeber das Recht einräumt, Freizeitausgleich zu verlangen, haben die Tarifvertragsparteien dem Arbeitgeber bewußt die Möglichkeit eröffnet, einem schwankenden Arbeitsanfall Rechnung zu tragen.
Die Flexibilisierungsinteressen des Arbeitgebers dürfen aber nach § 315 BGB nicht einseitig zu Lasten der Arbeitnehmer durchgesetzt werden.
Aus § 315 BGB ergibt sich insbesondere, daß der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer rechtzeitig mitteilen muß, wann er den Freizeitausgleich erhält. Dem Arbeitnehmer muß es ermöglicht werden, sich ausreichend darauf einstellen und die zusätzliche Freizeit sinnvoll nutzen zu können.
(1) Das Erfordernis einer rechtzeitigen Ankündigung findet sich auch in Art. 1 § 4 BeschFG 1985. Diese gesetzliche Vorschrift regelt Besonderheiten der variablen Arbeitszeit, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbart haben, daß die Arbeitsleistung entsprechend dem Arbeitsanfall zu erbringen ist. Nach Art. 1 § 4 Abs. 2 BeschFG 1985 ist der Arbeitnehmer zur Arbeitsleistung nur verpflichtet, wenn der Arbeitgeber ihm die Lage seiner Arbeitszeit jeweils mindestens vier Tage im voraus mitteilt.
(Anmerkung von dagobert1: BeschFG 1985 seit 01.01.2001 außer Kraft, neue Rechtsgrundlage TzBfG §12) Die in Art. 1 § 4 BeschFG 1985 geregelte Vertragsgestaltung belastet zwar den Arbeitnehmer stärker als der in § 3 Nr. 2 Abs. 2 MTV vorgesehene Freizeitausgleich für Mehrarbeitsstunden. Dies rechtfertigt aber nur eine kürzere Ankündigungsfrist und nicht ihren völligen oder nahezu völligen Wegfall.
(2) Keinesfalls ist es zulässig, den Arbeitnehmer erst zwischen 15.00 und 17.00 Uhr davon in Kenntnis zu setzen, ob er am folgen den Tag zur Arbeitsleistung verpflichtet ist oder Freizeitausgleich erhält. Dem Arbeitnehmer bleibt dann nicht mehr genügend Zeit, seine persönliche Terminplanung darauf einzurichten und die ihm eingeräumte Freizeit entsprechend seinen Vorstellungen und Interessen sinnvoll nutzen zu können. Die verspätete Ankündigung der Beklagten entwertete weitgehend den eingeräumten Freizeitausgleich.
[...]
III. Bei einer Vorverlegung der Arbeitszeit durch Freizeitausgleich liegt kein Fall des § 615 BGB vor (vgl. BAG Urteil vom 28. November 1973 BAGE 25, 426, 430 = AP Nr. 2 zu § 19 MTB II), so daß die Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 1 § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG nicht erfüllt sind.
Unter welchen Voraussetzungen eine Umgehung des Art. 1 § 11 Abs. 4 Satz 2 AÜG in Betracht kommt, kann offenbleiben, weil ein fristgerechter Freizeitausgleich fehlt und die Klageforderung deshalb ohnehin begründet ist.