SGB_II § 23 Abweichende Erbringung von Leistungen
Autor: Lang/Blüggel
Eicher/Spellbrink, SGB II,
2. Auflage 2008
Rn 68 - 72
a) Ungeeignetheit des Leistungsempfängers. § 23 Abs 2 sieht vor, dass der SGB II-Träger in besonderen Fällen die Regelleistung in Form von Sachleistungen erbringen kann.
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Voraussetzung hierfür ist, dass der Hilfebedürftige sich als „ungeeignet“ erweist, den eigenen Bedarf mit der Regelleistung zu decken. (Un-)Geeignetheit iSv § 23 Abs 2 stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, bei dem keine kontrollfreien Beurteilungsspielräume bestehen. Ob und wie lange (vgl dazu Rothkegel in Gagel, § 23 SGB II RdNr 46, Stand 9/2007) ein Hilfesuchender sich daher tatsächlich als ungeeignet erwiesen hat, den eigenen Bedarf mit der Regelleistung zu decken, ist gerichtlich voll überprüfbar.
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Grundsätzlich hängt die Eignung von anlage- und entwicklungsbedingten Persönlichkeitsmerkmalen, von physischen und psychischen Kräften, emotionalen und intellektuellen Voraussetzungen der Person ab, rekurriert also auf die ganze Person mit ihren körperlichen, seelischen und charakterlichen Eigenschaften (BVerwGE 11, 141; BVerfGE 4, 297; 47, 330, 336).
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In § 23 Abs 2 ist der Begriff freilich bereichsspezifisch, und zwar im Hinblick auf die gesetzliche Formulierung, dahingehend zu konturieren, dass es an der Geeignetheit nur fehlt, wenn sich die fehlende Eignung gerade darin erweist, dass der Hilfesuchende seinen Regelbedarf aus der Regelleistung nicht zu decken vermag. Jenseits dessen stellt der Geeignetheitsbegriff kein Einfallstor sozialstaatlich motivierter Erziehungsarbeit dar; gelingt es dem Hilfesuchenden mit der Regelleistung seinen Bedarf zu decken, kann der SGB II-Träger auch dann nicht auf eine Leistungserfüllung in Form der Sachleistung umsteigen, wenn er einen anderen Lebensstil des Hilfesuchenden für besser hielte und dies durch die Sachleistung befördern möchte.
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Im Übrigen ergibt der systematische Zusammenhang zu den im Gesetz angeführten Beispielsfällen, dass eine konzidierte Ungeeignetheit in ihrem Ausmaß und ihrer Bedeutung den in § 23 Abs 2 beispielhaft genannten Fällen nahekommen muss.
SGB_II § 23 Abweichende Erbringung von Leistungen
Autor: Lang/Blüggel
Eicher/Spellbrink, SGB II,
2. Auflage 2008
Rn 73 - 84
b) Konkretisierungen. aa) Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Das Gesetz konkretisiert den Ungeeignetheitsbegriff an drei Beispielen.
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Unglücklich ist, dass die Aufzählung der gesetzlichen Beispielsfälle, die eine Ungeeignetheit indizieren, beispielhaft gerade zwei Verhaltensweisen in Bezug nehmen, die Krankheitswert aufweisen und deshalb von den Betroffenen auch nicht ohne weiteres verändert werden können. Hier lassen sich Stigmatisierungen und negativ konnotierte Gesetzesanwendungen nur vermeiden, wenn sich die Fallmanager auch auf den Hilfecharakter der Regelung in § 23 Abs 2 beziehen und sich die durch die Vorschrift eröffnete Möglichkeit zur Sachleistung als Teil eines Gesamtkonzepts zur Behandlung und Überwindung der genannten Krankheiten darstellt (dieser Gedanke findet sich auch in der Rechtsprechung, vgl etwa BVerwGE 72, 354, 358, „Alkoholismus als krankhaftes Geschehen nur durch zusammenwirkende ärztliche, psychologische und soziale Hilfen „therapierbar“).
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Die Begriffe Drogen- und Alkoholabhängigkeit weisen zudem aus mehreren Gründen nicht unerhebliche Operationalisierungsschwierigkeiten auf. Zum einen indiziert nicht jeder – eventuell sogar nicht einmal missbräuchlicher – Konsum Abhängigkeit, auch nicht, sofern ein Drogenkonsum in Rede steht (BVerfGE 90, 145, 171).
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Zum anderen besteht über die Interpretation der Begriffe Alkohol- und Drogenabhängigkeit keine Einigkeit, vielmehr erfolgt ihre inhaltliche Ausdeutung in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen unterschiedlich (Lang in Höfling, TPG, 2002, § 10 RdNr 43). Zu beachten ist allerdings, dass Alkohol- und Drogenabhängigkeit in § 23 Abs 2 Rechtsbegriffe sind, die der rechtlichen Wertung bedürfen.
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Aus medizinischer Sicht liegt Alkoholabhängigkeit bei einer Abhängigkeit vom Alkohol mit somatischen, psychischen oder sozialen Folgeschäden vor (vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Aufl 2007). Unter Drogenabhängigkeit versteht man in der Medizin im Anschluss an die von der WHO verwandte Definition allgemein die Abhängigkeit von Suchtmitteln mit zentral-nervöser Wirkung (zB Opiate, Kokain oder Psychodysleptika, vgl Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 261. Aufl 2007).
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Es kommt aus medizinischer Sicht darauf an, ob beide Verhaltensweisen von einer Abhängigkeit begleitet sind; Verschuldensfragen sind dabei irrelevant. Aus biopsychologischer Perspektive bezeichnet man Personen als physisch abhängig, die unter Entzugserscheinungen (Konvulsionen, Schlaflosigkeit, Ruhelosigkeit) leiden, sobald sie die Droge absetzen (vgl Pinel, Biopsychologie, 1997, 342). Entscheidend ist gem § 23 Abs 2, ob die Abhängigkeit dem Hilfebedürftigen die Eignung nimmt, sich wirtschaftlich zu verhalten (hierzu RdNr 81 ff).
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Fällen von Drogen- und/oder Alkoholabhängigkeit gleichgestellt werden können andere, die Sicherung der Bedarfsdeckung unterminierende Suchterkrankungen, etwa (Automaten-)Spielsucht. Auch in derartigen Fällen kann sich der Hilfeempfänger wegen „unwirtschaftlichen Verhaltens“ als ungeeignet iSv § 23 Abs 2 erweisen.
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Lässt sich eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit nicht nachweisen, geht dies materiell-rechtlich zu Lasten der Behörde. Dem Hilfesuchenden obliegt bei der Aufklärung des Sachverhaltes jedoch die Mitwirkung. So muss er insbesondere gem § 59 SGB II iVm § 309 Abs 1 S 1 SGB III zu einer ärztlichen oder psychologischen Untersuchung erscheinen, wenn der SGB II-Träger ihn dazu auffordert. Unterlässt er dies, können leistungsrechtliche Sanktionen gem § 31 Abs 2 eintreten.
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bb) Unwirtschaftliches Verhalten. Soweit das Bundessozialhilfegesetz (als Voraussetzung einer Einschränkung der Leistungsansprüche nach § 25 Abs 2 Nr 2 BSHG) auf unwirtschaftliches Verhalten rekurrierte, wurde darunter ein vorwerfbares Verhalten verstanden, das von einem verschwenderischen, sinnlosen und mit normalen Maßstäben überhaupt nicht zu vereinbarenden Umgang mit den bereitgestellten Mittel gekennzeichnet war (vgl Hofmann in LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 25 RdNr 12). Diese Maßstäbe können auch für das SGB II Bedeutung entfalten (LSG Hamburg 9. 6. 2005, L 5 B 71/05 ER AS).
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Auf das genannte inkriminierte Verhalten kann aber weder im Sozialhilferecht noch unter der Ägide des SGB II allein schon deshalb geschlossen werden, weil die Regelleistung – unter Umständen und in Einzelfällen auch bereits deutlich – vorzeitig verbraucht wurde. Ein solcher Schluss verbietet sich schon wegen der im Hinblick auf die Sicherung des notwendigen Lebensunterhalts außerordentlich knapp kalkulierten Regelsätze (vgl für die Rechtslage nach dem BSHG Hofmann, in LPK-BSHG, 6. Aufl 2003, § 25 RdNr 12).
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Im Übrigen weist auch dieses Tatbestandsmerkmal Konkretisierungsprobleme auf. Handelt etwa eine Mutter, der nach Regelsatzberechnung 1,54 Euro pro Monat für Spielsachen zustehen, unwirtschaftlich, wenn sie ihrer Tochter zwei Puppen in einem Vierteljahr kauft? Indizieren die Sicherung des Regelbedarfs tangierende Mehrausgaben zu Weihnachten im Zusammenhang mit diesem Fest unwirtschaftliches Verhalten? Hier ist nicht zuletzt wegen des bevormundenden Beigeschmacks, der dem Umschalten auf Sachleistungen zukommt, eine restriktive Auslegung geboten.
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Nach der Formulierung in § 23 Abs 2 („der Hilfebedürftige . . . mit der Regelleistung“) ist für die Beurteilung der Ungeeignetheit allein das Verhalten des Hilfebedürftigen relevant. Drogen- oder Alkoholabhängigkeit von anderen Mitgliedern der Bedarfsgemeinschaft oder deren unwirtschaftliches bzw die Sicherung des Lebensunterhalts beeinträchtigendes Verhalten sind demnach irrelevant (Rothkegel in Gagel, § 23 SGB II RdNr 49, Stand 9/2007).
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